Alexander Gadjiev – Die Welt retten

Unsere Begegnung findet in Krefeld statt, bei Kawai, jener japanischen Klaviermarke, die Alexander Gadjiev seit seinem Wettbewerbssieg von Hamamatsu so vertraut ist. Nun kommt seine Karriere auch in Europa richtig in Fahrt, denn Gadjiev ist bis Ende 2021 BBC New Generation Artist.

Sie sind in Gorizia geboren, an der Grenze zwischen Italien und Slowenien, an einem Knotenpunkt von Völkern, Kulturen und Sprachen.
Gorizia ist nur ein kleines Städtchen, aber die Mixtur der Einflüsse hat mich schon geformt. Zudem hatte mein Vater eine interessante Klasse mit großen Talenten, unter denen sich auch Giuseppe Guarrera befand, einer meiner besten Freunde, der in diesem Jahr das Stipendium beim Klavier-Festival Ruhr gewonnen hat.
Ihr Vater hatte in Moskau studiert. Ja, bei Boris Zemliansky, der u.a. auch Lehrer von Vladimir Ashkenazy und Alexander Toradze war. Der Kern seines Unterrichts war das Entwickeln von Freiheit, Kreativität und Fantasie, um auszudrücken, was man fühlt.
Ist das ein Schlüssel zur Interpretation?
Meine Intuition sagt mir, wie ich etwas spiele. Die Phase der Analyse, die vorangeht, ist sehr interessant und lehrreich, aber letztendlich muss man sie überwinden.
Um beispielsweise aus der „Chaconne“ von Bach/Busoni eine große Erzählung zu machen?
Ich interessiere mich stark für Wissenschaft und hätte mich beinahe für eine akademische Karriere entschieden. Vor allem Mathematik zieht mich an, wegen der Klarheit, mit der man von A nach B kommt. Diese innere Logik ist beispielsweise auch bei Brahms und Beethoven sehr stark. Aber dasselbe kann man auch auf mystische Weise tun. Die durchgehende Linie ist in einem Stück mit so vielen Perspektiven nicht leicht zu realisieren, daran habe ich hart gearbeitet. Aber man kann auch jeder Variation einen eigenen Charakter geben. Diese Schönheit erfährt man vielleicht am intensivsten im Konzertsaal, während man das Rationale der großen Struktur bei einer Aufnahme am besten fassen kann.

Ihr Ausdruck ist sehr persönlich, bleibt aber doch eng an der Intention des Komponisten.
Ja, aber ich schätze auch die Aufnahme von Pletnev, der eigentlich das Gegenteil von mir macht. Er spielt das Stück wie eine freie Fantasie. Dieser Gegensatz sitzt sehr tief in mir.
Richter und Horowitz sind wichtig für Sie, und die verkörpern auch einen Gegensatz.
Ich bewundere Richter wegen seines Geistes, seines inneren Dranges und der zwingenden Konsequenz, mit der er spielt. Er ist eines der besten Beispiele für das Außermusikalische in der Musik. Er folgt nicht nur den Regeln der Musik, der harmonischen Phrasierung, sondern auch einer höheren, übergreifenden Idee, die die gesamte Interpretation steuert – mit Grandeur, aber auch mit einer universellen Traurigkeit. Horowitz war jemand fast auf dem Niveau eines Komponisten. Ich denke, dass Rachmaninow das meinte, als er sagte, dass niemand sein drittes Klavierkonzert so spiele wie Horowitz.
Man vergleiche das mit der Sechsten Sonate von Prokofjew wie sie Richter spielt. In beiden Aufnahmen hört man die Urkraft, das Beängstigende. Prokofjew spielt mit Tod und Verhängnis auch auf eine groteske Art. Die Logik und Konstruktion in seiner Musik sind unerreicht, er bringt neues Licht in die Tradition, sein melodisches Talent ist beinahe so groß wie das von Mozart, und zugleich ist da diese unerklärliche Inspiration. Ich fühle das sehr stark in den Interpretationen von Richter.
Sie schätzen auch Keith Jarrett sehr, auch bei ihm ist vieles unerklärlich.
Er ist eine meiner größten Inspirationen. Als ich ihn neu kennengelernt hatte, kam mir das fast wie eine Sünde vor, weil ich bis dahin nur klassische Musik gehört hatte. Ich habe ihn zweimal live erlebt, und es war sehr faszinierend, die Entwicklung in seinen musikalischen Ideen zu hören. Gleichzeitig war es auch spirituell sehr anregend.
Müsste das nicht immer so sein? Die meisten Pianisten haben heute eine sehr rationale Herangehensweise. Das sieht man heute auch überall in der Gesellschaft, den Drang, zu begreifen und produktiv zu sein. Damit begreifen wir wahrscheinlich Vieles auch nicht vollständig. Ich sehe es auch als Aufgabe des Pianisten, ein Stück mit neuem Leben zu erfüllen.
Kann Musik die Welt retten und die Menschen besser machen, wie Bernstein sagt?
Bernstein hatte das natürlich von Dostojewski, aber ich denke schon, dass es so ist. Und es ist gar nicht so kompliziert. Zuhören und Kontakt aufzunehmen, ist ein Verfahren der Empathie. Und das ist keine Einbahnstraße. Für den Pianisten ist es auch ein Abenteuer, abhängig von Publikum, Saal, Instrument und dem Augenblick.

Jemand, der das beseitigen zu wollen scheint, ist Sokolov.
Ich hege große Bewunderung für seine Perfektion, Hinwendung und Kontrolle. Man hört, dass er 24 Stunden am Tag in die Materie vertieft ist. Für mich ist er ein unglaublicher Architekt, nein, eher noch ein Filmregisseur. Jedes Detail, jede Bewegung ist vorbereitet. Das finde ich auch beängstigend. Ich denke, dass beispielsweise für einen Chirurgen, der selbst auch sehr konzentriert und präzise sein muss, Sokolov das Höchste ist. Horowitz passt besser zu mir. Er ist mehr ein Künstler auf der Bühne, der in dem Moment die Energie transformiert. Man fühlt bei ihm die Spannung, die Angst und die enorme Verletzlichkeit. Er spielt nicht wie in seinem Studierzimmer. Richter hatte das auch, diese Qualität, und darin spiegelt sich der innere Reichtum wider, das ist etwas Mystisches. Das lässt sich nicht erzwingen, und es ist schwierig in unserer Gesellschaft, die einen beinahe nötigt, produktiv zu sein. Aber unsere Meinungen sind schlechterdings nur eine Reflektion unserer eigenen Wirklichkeit und zu 90 Prozent subjektiv.
Celibidache sagt, dass man in der Musik sein eigenes Ich kennenlernen kann. Denken Sie das auch?
Ich bewundere bei Celibidache das höchste Niveau reiner Musik. Bei ihm geht es um die Beziehungen zwischen Noten, Ursache und Folge, Strukturen. Und ja, wenn man zu einem Konzert geht mit dem Ausspruch von Bernstein im Hinterkopf, mit dem Bewusstsein und der Empfindsamkeit, dann lernt man viel über sich selbst. Dann ist das eines der schönsten Dinge, die es gibt.
Interview by: Eric Schoones for PIANIST
Neue CD: Literary Fantasies, mit „Petrarca-Sonett“ und „Après une Lecture du Dante“ von Liszt, „Kreisleriana“ und eines der „Fantasiestücke“ op. 111 von Schumann. Alexander Gadjiev: „Ich liebe Literatur. Petrarca und Dante stehen sich als Italiener und auch meiner Persönlichkeit nahe, ich verstehe dadurch auch die Untertöne, die man sonst nicht mitbekommt. Die „Dante-Sonate“ ist ein sehr modernes Stück. Liszt ist der Erfinder des Soundtracks. Da hört man wirklich die Hölle und die Liebe.“ Acousence Classics ACO-CD 13117
CD Preview: https://www.youtube.com/watch?v=vnOqSR9bla4&feature=emb_logo
